„Wenn du vor dem Spiegel stehst, das Messer in der Hand hältst, mit dem du
immer deine Haare schneidest, und dich fragst, ob es sehr wehtun würde….
Ob ein oder zwei Schnitte in die Haut wehtun würden. Und dann erst wird dir
wirklich klar, wie weit du inzwischen wieder bist. Ab diesem Moment sind es
nicht einfach nur ein paar Probleme. Ab diesem Moment ist es nicht nur ein
kleiner Schubser über die normale Belastungsgrenze. Ab diesem Moment ist es
auch keine körperliche Müdigkeit mehr.
Du weinst nicht, weil du müde bist. Du weinst, weil du ab Ende bist.
Du hast keine Ahnung, wohin mit all den Gefühlen die dich innerlich zu
zerdrücken scheinen. Du kannst sie nicht einfach rauslassen, so wie du es gern
würdest.
Alles um dich herum scheint einzubrechen, es wird alles nur schwerer
anstatt besser zu werden. Und gerade all das stützt auf dich ein und lässt dich
Gedanken an etwas verschwenden, an das du früher nicht ein einziges Mal gedacht
hast. Aber du weißt, dass Schmerzen in der Lage sind, dir die Gedanken an
anderes zu nehmen. Du weißt es, weil jedes Mal, wenn du dich versehentlich
verletzt hast, hattest du für nichts anderes im Kopf Platz.
Und genauso würde es auch sein, wenn du die Klinge des Messers ansetzen
würdest.
Du weißt es. Weil du auch weißt, wie es sich anfühlt, die Klinge durch das
eigene Fleisch zu ziehen.
Und an diesem einen Punkt bin ich erneut angelangt.
Ich starrte auf die Klinge in dem Frisörrasiermesser, mit dem ich mir die
Stufen in meine Haarpracht schnitt. Diese Klinge ist scharf – sehr, sehr
scharf. Ich lasse meinen Finger darüber gleiten – so, wie man es macht, um zu
sehen, ob eine Klinge noch scharf genug ist. Ich tue es jetzt und hebe meinen
Blick, um mich selbst im Spiegel anzusehen.
Ein Seufzen verlässt meine Lippen und ich beiße mir auf die Unterlippe, ehe
ich meine linke Hand mit der Handfläche nach oben drehe und mit der kalten,
stumpfen Seite des Rasiermessers über meine Haut fahre. Ich habe bereits Narben
dort. Helle, weiße Erinnerungen an etwas, das früher eine Problemlösung
dargestellt hatte. Und ich hatte mir selbst versprochen, dass ich es nicht mehr
brauchen würde. Ich hatte wirklich gedacht, ich könnte normal weiterleben, wie es
jeder andere Mensch auch tut, aber ich kann es nicht.
Es ist einfach so viel um mich herum, dass ich das Gefühl habe, langsam zu
ertrinken.
Ich drehe das Messer in meiner Hand und meine Finger beginnen ein wenig zu
zittern. Habe ich Angst vor dem Schmerz, der folgt? Vielleicht ein bisschen.
Aber es nicht so, dass mein Herz schneller zu schlagen beginnt. Es ist viel
eher, dass sich eine Ruhe um mein Inneres legt.
Ich übe etwas Druck aus – nicht viel, denn die Klinge ist scharf – und ziehe
einen nicht einmal zwei Zentimeter langen Schnitt an einer Stelle, die leicht
von einer Armbanduhr oder einem Armband abgedeckt werden könnte.
Aber es tut nicht weh. Ich spüre nicht einmal, wie die Klinge durch meine
Haut schneidet. Erneut setze ich an, ein bisschen unter dem ersten Schnitt, und
ziehe einen längeren in meine Haut. Ein leichtes Ziehen breitet sich in dieser
Stelle aus und ich sehe das rote Blut, das aus diesem herausquillt.
Ich lasse das Messer auf meine Kommode fallen und gehe ein paar Schritte
zurück, bis ich mich auf mein Bett setzen kann.
Ich umschließe mein Handgelenk mit der rechten Hand, streiche das Blut mit
dem Daumen weg und sehe zu, wie neues nachkommt. Für einen Moment genieße ich
die Taubheit, die in meinem Kopf herrscht, während ich mich auf den zarten
Schmerz und das leichte Brennen konzentriere und mir erlaube, zuzulassen, dass
ich mich frei fühle. Aber dann greife ich nach meiner Nachttischschublade,
ziehe sie auf und fummle mit spitzen Fingern das Verbandsmaterial hervor, dass
ich dort in einem ausgehöhlten Buch verwahre.
Das Desinfektionsspray brennt auf den frischen Wunden, ehe ich ein Pflaster
daraufklebe und kurz darauf das Bandana aus der Schublade nehme. Mit
geschickten, bereits geübten Griffen falte ich es zu einem schmalen Band und
wickle es um mein linkes Handgelenk.
Ich nehme mir immer wieder vor, dass ich alles allein schaffen könnte und
niemanden Sorgen bereiten muss. Und dann wird es jedes Mal wieder zu viel. Dabei
hatte ich versprochen, es nicht mehr zu tun. Ich hatte versprochen, zu anderen
Mitteln zu greifen, darüber zu reden. Aber ich will nicht, dass jemand weiß,
was in meinem Kopf vor sich geht. Ich will nicht, dass sich jemand Sorgen um
mich macht. Das ist auch der Grund, warum ich so gut darin geworden bin, das zu
verbergen, was ich mir selbst teils antue, um nicht denken zu müssen. Ich kann
die Wunden versorgen und sie verstecken. Denn umbringen würde ich mich nicht.
Ich könnte es nicht…. Dafür will ich einfach noch zu viel in meinem Leben
erleben. Da sind einfach noch Ziele, die ich erreichen will, Länder, die ich
sehen will… Aber ich weiß auch, dass meine Hoffnung darauf schwindet, dass es
irgendwann besser wird… Nur einen letzten Strich ziehen? Nein, das könnte ich
nicht.
Ich habe es …
versprochen.“
> Ein kleiner Auszug aus "Night Owls", Prolog - Gabriels Sicht <
> Ein kleiner Auszug aus "Night Owls", Prolog - Gabriels Sicht <
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